Der Reiz von verfallenen Gebäuden

von Erik Boß

Foto: Ehemalige Industriegebäude auf der Halbinsel Stralau - (c)2010. Aufnahmestandort

Gestern habe ich eine neue Fotoserie veröffentlicht. Es sind Fotos, die ich auf dem Heimweg von meinem Arbeitsort in Prenzlauer Berg zurück nach Friedrichshagen gemacht habe. Unter anderem komme ich an diesem alten Industriegebäude vorbei, und das führt mich zum eigentlichen Thema dieses Blog-Beitrages.

Noch vor einer Woche hatte ich ja ein ganz anderes Foto und eine ganz andere Stimmung gezeigt: Ein ländliches Motiv am Rande der Großstadt. Heute nun dieses verfallene Gebäude. Wer glaubt, ich zeige dieses Foto, um die hässlichen Seiten von Berlin zu dokumentieren, den muss ich enttäuschen. Denn ich finde solch ein verfallenes Industriegebäude äußerst reizvoll, es übt eine eigentümliche Faszination auf mich aus. Die Fenster fehlen, sind mit Holz abgedichtet. Das Haus steht seit Jahren leer. Es ist kräftig besprüht und bemalt worden. In Kriminalfilmen werden hier wohl immer die Opfer von Verbrechen gefunden, oder Flüchtige finden hier Unterschlupf.

Real ist dieses Gebäude wirklich nicht sehr anziehend. Der Boden ist verdreckt, überall Glassplitter und Müll. Aber auf dem Foto geht es ja auch nicht um die Realität. Es geht um Emotionen, die beim Anblick von Fotos von verfallenen Häusern angesprochen werden. Was sind das für Emotionen, was sind die Motive, solche Fotos herzustellen und zu betrachten?

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Foto: Ein Bild vom Juni 2010 während der Fußball-WM: Industriebrache in Friedrichshain- (c)2010

Ich vermute, solch ein ehemaliges Industriegebäude ist für mich deshalb so sympatisch, weil aus ihm die negativen Attribute der Arbeitswelt wie Verlust der Selbstbestimmung, Missachtung der Persönlichkeit oder Schikane verschwunden sind. In dieses Gebäude ist eine wundersame, friedliche Ruhe eingekehrt. Es ist ein anarchistischer Ort, an dem die Natur machen darf, was sie will. Das Foto wird für mich zum interessanten Foto, weil es nicht nur den tatsächlichen Ort zeigt, sondern auch etwas von meine Werten und Ansichten. Diese Werte sind mir während des Fotografierens gar nicht bewusst. Jetzt, im Nachhinein bei der Analyse solcher Fotos, kommt eine Ahnung auf, warum diese Motive so interessant für mich sind.

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Foto: Schienen ins Nichts - (c)2010

Ich ertappe mich jetzt bei der Frage, ob es nicht interessant wäre darüber nachzudenken, was mit denen ist, die solche Fotos von Industrieruinen nicht mögen. Aber das möchte ich dann doch lieber sein lassen. Die Fotografie kann vieles: Sie kann dokumentieren, aber sie kann auch Wege zum Verständnis der eigenen Persönlichkeit bahnen. Ob und wie man sich mit Hilfe der Fotografie mit seinem Bewußtsein auseinandersetzt, kann nur jeder selbst für sich entscheiden.

Vielen Dank für das Interesse an meinem Blog.
Erik Boß

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